Meilenstein der Wirtschaftsgeschichte

Die Grundregeln für Tarifverhandlungen sind älter als das Grundgesetz – und haben sich vielfach bewährt. Doch die sinkende Tarifbindung zeigt: An einigen Stellen muss die Politik jetzt handeln.

Es klingt so einfach: Eine Gewerkschaft verhandelt mit einem Arbeitgeberverband. Am Ende steht ein Tarifvertrag, der Löhne oder Arbeitsbedingungen regelt. Aber warum und seit wann ist das eigentlich so?

Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit.

Wenn Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbände heute Tarifverträge abschließen, dann tun sie das auf der Basis eines Gesetzes, das bereits 75 Jahre alt ist und sich in dieser Zeit kaum verändert hat: das Tarifvertragsgesetz.

Das Gesetz trat am 9. April 1949 in Kraft. Zunächst aber nur in der sogenannten Bizone, dem deutschen Besatzungsgebiet der USA und Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit ist das Gesetz älter als die Bundesrepublik und das Grundgesetz.

1953 wurde es auf die französische Besetzungszone übertragen. Seit der deutschen Wiedervereinigung gilt es auch in den ostdeutschen Bundesländern.

Kampf ums Prinzip

Um das Tarifvertragsgesetz hatten Gewerkschaften, Arbeitgeber, Parteien und Besatzungsmächte nach dem Krieg jahrelang gerungen. Dabei ging es um grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung: Wer bestimmt über Gehälter, Arbeitszeit, Urlaub oder Lohnfortzahlung bei Krankheit? Welche Rolle spielt der Staat? Wie viel Macht und Mitsprache haben die Beschäftigten?

Am Ende dieser Debatte stand ein Gesetz, das Beschäftigten und Arbeitgebern ein hohes Maß an Unabhängigkeit garantierte.

„Das Gesetz ist Ausdruck der Tarifautonomie, die – einen Monat später – auch im Grundgesetz verankert wurde“, erklärt Johanna Wenckebach, Justiziarin beim IG Metall-Vorstand. „Das heißt: Gewerkschaften und Arbeitgeber handeln Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aus, unabhängig vom Staat. Das sind fundamentale Regeln, die bis heute die Arbeitswelt prägen.“

Die Wirkung des Gesetzes ist kaum zu überschätzen: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitszeitgrenzen, Urlaubsanspruch. All das stand zuerst in Tarifverträgen. Und erst später in Gesetzen.

Immer wieder handelten die Gewerkschaften Regeln aus, die das Leben von Millionen Beschäftigten verbesserten: Zum Beispiel den arbeitsfreien Samstag („Samstags gehört Vati mir!“) oder Urlaubsgeld.

Basis dafür war und ist das Tarifvertragsgesetz.

Teure Tarifflucht

So erfolgreich das Gesetz auch war: Heute arbeiten immer weniger Beschäftigte in Deutschland nach Tarif. Über Jahrzehnte waren es 80 bis 90 Prozent. Aktuell sind es noch rund 50 Prozent.

Dieser Trend ist nicht zwangsläufig. Das zeigt ein Blick ins europäische Ausland. Dort gibt es in mehreren Staaten nach wie vor eine Tarifbindungsquote von 80 Prozent und mehr. Doch viele Unternehmen entziehen sich ihrer Verantwortung, kündigen Tarifverträge, steigen aus den Arbeitgeberverbänden aus.

Die Rechnung dafür bezahlen wir alle. Jedes Jahr entgehen der Allgemeinheit durch Tarifflucht rund 130 Milliarden Euro. Das hat der Deutsche Gewerkschafsbund (DGB) mit Zahlen des Statistischen Bundesamts ausgerechnet.

Einbußen bei der Kaufkraft machen rund 60 Milliarden Euro dieser Summe aus. Den Sozialversicherungen – Rente, Krankenkasse – entgehen rund 43 Milliarden pro Jahr. Und der Staat muss auf rund 27 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verzichten.

Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen im Schnitt 3022 Euro weniger im Jahr als Kolleginnen und Kollegen mit Tarif (netto).

Neue Regeln müssen her

Die IG Metall holt rechnerisch alle zwei Tage einen Betrieb in die Tarifbindung. Doch für eine flächendeckend höhere Tarifbindung ist auch die Politik gefragt.

Eine Forderung der Gewerkschaften lautet: Die Ampelkoalition soll das angekündigte Tariftreuegesetz umsetzen. Das würde bedeuten: Öffentliche Aufträge des Bundes gehen nur noch an Unternehmen, die nach Tarif zahlen. Der DGB fordert außerdem, dass Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die Verträge würden dann bundesweit für eine gesamte Branche gelten.

Auch Schlupflöcher wie Outsourcing – also die Abspaltung von Unternehmensteilen – müssen geschlossen werden. Denn dabei geht die Tarifbindung oft verloren.

Das Tarifvertragsgesetz wird 75. Aber es ist flexibel und deshalb immer noch zeitgemäß. Mit ein paar neuen Ideen kann es locker noch mal so alt werden.

* Foto: Thomas Range