Helfen und Lernen – Zu Besuch bei Kira Wischnewski

Judy, 6, beugt sich über ihr Schulheft, zählt eine Reihe von Strichen und schreibt mit dem Bleistift eine Acht ans Ende der Reihe. »Lass uns mal nachzählen«, sagt Kira Wischnewski. Gemeinsam kommen sie auf neun  Striche. Judy radiert die Acht aus, schreibt stattdessen Neun – und lächelt: Hausaufgabenhilfe im Haus der Jugend des DGB Gelsenkirchen.

Der neunjährige Mussa hat keine Lust auf Hausaufgaben fläzt sich auf seinem Stuhl herum und nutzt jede Gelegenheit, mit anderen Kindern zu reden. Kira Wischnewski ruft: »Mussa, diskutier nicht – mach!« An der Wand des Zimmers steht, wofür das Gewerkschaftshaus steht: »Gemeinschaft, Ausdauer, Fairness, Stärke, Spaß, Mut«.

Gelernte Modeschneiderin

Vor ein paar Jahren sah die Welt von Kira Wischnewski völlig anders aus: Sie begann eine Ausbildung zur Modeschneiderin in einem Unternehmen der Steilmann-Gruppe, trat früh in die IG Metall ein, engagierte sich als Jugendvertreterin, übernahm den Vorsitz der Jugend- und Auszubildendenvertretung, später noch den Vorsitz des Ortsjugendausschusses der IG Metall Gelsenkirchen, und besuchte IG Metall-Seminare.

Sie holte während der Ausbildung abends den Realschulabschluss nach. Kira Wischnewski: »Hauptschüler gelten doch als die Dummen, die nicht viel reißen.« Und sie erlebte den Niedergang ihrer Branche, die Zahl der Arbeitsplätze im Betrieb sank in drei Jahren von 200 auf 80.

Bafög macht es möglich

Wie soll es weitergehen, wenn der alte Arbeitsplatz weg ist? Das trieb sie um. Ihre Ahnung bestätigte sich: Der Stern des Textilunternehmens Steilmann verblasste und sank, Kira Wischnewski wurde arbeitslos. Sie holte tief Luft – und in drei Jahren das Abitur nach, am Weiterbildungskolleg der Stadt Gelsenkirchen. Das Schüler-BAföG machte es möglich Sie musste zwar vom ersten Tag an pauken, machte aber die Erfahrung: »Die verlangen nichts Überirdisches.« Die Vorbereitung aufs Zentralabitur sei »super« gewesen.

Als Referentin der IG Metall merkte sie, dass ihr »der Umgang mit Menschen« liegt, ihr Spaß macht, sie anderen etwas beibringen kann. Sie schrieb sich an der Fachhochschule Mönchengladbach ein, studiert jetzt Kulturpädagogik. Ob sie später als Sozialarbeiterin tätig ist oder an Bildungsstätten, weiß sie noch nicht. Voraussetzung für das Studium war ein pädagogisches Praktikum, das sie – auf Anraten der Gelsenkirchener IG Metall-Jugendsekretärin Julia Berg – im Haus der Jugend des DGB Gelsenkirchen absolvierte.

Hilfe bei den Hausaufgaben.

»Es ist das einzige gewerkschaftliche ›Haus der offenen Tür‹ in Deutschland«, sagt die Leiterin Susanne Franke. Auf rund 1000 Quadratmetern gibt es in dem zentral gelegenen vierstöckigen Haus eine »Offene Tür«, eine Küche, einen Speisesaal für 50 Gäste, ein Internet-Café, Räume für Schularbeiten, es stehen da ein Kicker und ein Billardtisch. Die 30 bis 40 Kinder, die das Haus nachmittags besuchen, sind zwischen 6 und 16 Jahre alt.

Kira zeigt Gelb oder Rot.

Die eine Hälfte spricht zwei Sprachen, die andere kein Deutsch. Doch sie lernen es schnell. Eine Regel im Haus der Jugend lautet »Wir reden Deutsch«. Andere Regeln lauten »Wir hören auf die Betreuer«, »Wir hören einander zu«, »Wir sagen Bitte und Danke«. Wer gegen die Regeln verstößt, dem zeigen Kira Wischnewski und die anderen Betreuerinnen die Gelbe Karte, im Wiederholungsfall die Rote (was ein Gespräch mit den Eltern zur Folge hat). Die Kinder sollen erleben, dass ihr Tun und Lassen Konsequenzen hat, für die sie die Verantwortung übernehmen müssen. Ist ein Konflikt ausgetragen, ist anderntags alles wieder gut, niemand unten durch.

»Regeln sind für Kinder ein Geschenk«, sagt Susanne Franke. Das sieht auch Kira Wischnewski so – aus eigener Erfahrung. Sie stammt – wie viele der Migrantenkinder – aus einer kinderreichen Familie. Ihre alleinerziehende Mutter (»eine Kämpfernatur, eine Löwin«, sagt Kira) brachte die Familie mit Nachtschichten über die Runden. Kira und ihre Geschwister mussten »schnell groß werden«.

Kira hat den Hut auf.

Kira Wischnewski bleibt dem DGB Haus der Jugend in Gelsenkirchen auch als Studentin erhalten und hilft weiter mit. Im Haus ist Mitte September ein Mädchencafé eröffnet worden – und da hat sie »den Hut auf«.

Kira hat es von der Hauptschule an die Uni geschafft. Neben dem Studium hilft sie Kindern bei den Hausaufgaben. Foto: Thomas Range